Zeitenwende auch in der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik?

von Michael Groschek, Präsident des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e.V. und Staatsminister a.D.

Der russische Krieg gegen die Ukraine und das Leid der Menschen überschattet derzeit alles. Auf der einen Seite erleben wir enorme Solidarität und Unterstützung, auf der anderen Seite herrscht tiefe Verunsicherung. Nach der Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik werden auch für weitere Politikbereiche Veränderungen und Herausforderungen offensichtlich. So etwa für das neue Bauressort unter Bundesministerin Klara Geywitz, das vor zusätzlichen Aufgaben bei angespannter Haushaltssituation steht.

Große Erwartungen an Bündnis für bezahlbaren Wohnraum

Große Erwartungen lasten auf dem neuen „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“ aber auch auf weiteren wohnungs- und stadtentwicklungspolitischen Vorhaben. Dabei kann es nicht nur darum gehen, die ambitionierten Neubauziele bei hohen Baukosten sowie begrenztem und teurem Bauland zu erreichen und bezahlbaren Wohnraum zu sichern und zu schaffen. Mindestens genauso intensiv muss sich die Bundespolitik um lebenswerte Quartiere und die Dekarbonisierung des Gebäudebestandes kümmern. Die angesprochenen Bereiche sind allesamt komplexe Querschnittsthemen, die zahlreiche Akteure betreffen. Die Politik kann ihnen nur in Kooperation mit der Praxis gerecht werden. Dafür gilt es, Arbeitsprozesse mit allen Ebenen anstoßen, bei denen Wohnungswirtschaft, Gesellschaft und Politik an einem Strang ziehen.

Wohnraumversorgung und Integration

Die akute Unterbringung der ukrainischen Flüchtlinge sowie die mittel- bis langfristige Integration der in Deutschland bleibenden Menschen in den Wohnungsmarkt sowie in unsere Gemeinschaft und unsere Arbeitswelt sind eine Mammutaufgaben. Nach der ersten Welle der spontanen Unterstützung durch Bevölkerung, Kommunen und Unternehmen müssen öffentliche Hand und Wirtschaft dafür tragfähige sektorenübergreifende Strukturen schaffen: Es gilt, auf Quartiersebene die Versorgung mit Wohnraum zu verbinden mit Sprach- und Integrationsförderung sowie mit der aktiven Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Dabei kann man gut auf den Erfahrungen mit der Bewältigung der letzten Flüchtlingswelle 2015 aufbauen. Was den zusätzlichen benötigten Wohnraum angeht, so sollten Neubau, Umnutzung und Aufstockung schneller, kreativer, dichter und günstiger erfolgen können. Dafür müssen bei der Überregulierung einige Bremsen gelöst werden.

Noch mehr Geschwindigkeit bei Energiewende und Klimaschutz

Die Konfrontation mit Russland macht offensichtlich, dass wir bei der Energiewende noch schneller vorankommen müssen. Denn erneuerbare Energien sind die einzige langfristig tragfähige Lösung. Eine zu strikte Verschärfung des Effizienz-Dogmas für Bestandssanierungen wird allerdings an Baupraxis, Baukapazitäten, steigenden Warmmieten und überforderten Eigentümer:innen scheitern. Zudem stehen exponentiell steigende Kosten einem im Verhältnis immer geringeren Nutzen gegenüber. Deshalb brauchen wir mehr denn je lokal angepasste und technologieoffene Handlungsansätze. Diese sollten ein Optimum an Wärmeschutz mit einer treibhausgasneutralen Energieversorgung verbinden und weitere technologische Entwicklungen einbeziehen – ohne Planungs- und Investitionssicherheit aufzugeben.

Gemeinwohl und Quartiersansatz als Kompass

Angesichts der angespannten Situation und der drängenden Aufgaben sollten aber die „Soft Skills“ der Stadtentwicklung, wie integriertes, ko-produktives Arbeiten oder die Gemeinwohlorientierung, nicht vergessen werden. Denn sie sind es, die langfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern. Die durch Krieg und Flucht entstehenden Integrationsaufgaben etwa müssen integriert und gemeinschaftlich auf Quartiersebene gelöst werden. Auch die Gemeinwohlorientierung, die die Neue Leipzig-Charta als Prinzip einer funktionierenden Stadtentwicklungspolitik gesetzt hat, gilt es mehr denn je in die Praxis umzusetzen. Etwa wenn es um die Vernetzung und Koproduktion verschiedener Akteure für eine aktivierende Quartiersentwicklung geht. Die sich mit Corona und den Flüchtlingen noch virulenter stellenden Transformationsaufgaben können wir nur lösen, wenn die vielfältigen Akteure ihre Ressourcen und ihre Kompetenzen bündeln. Dafür steht die Nationale Stadtentwicklungspolitik, die der Bund mit Ländern und Kommunen und einer großen, engagierten Fachcommunity seit der Verabschiedung der ersten Leipzig Charta im Jahr 2007 intensiv und erfolgreich betreibt. 

Als „Quartiersverband“ bleiben wir für solche Ansätze gerne der ideologiefreie Pfadfinder und helfen als Dialogplattform dabei, einen Interessenausgleich herzustellen, als Grundlage für die notwendigen politischen Entscheidungen.

 

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