Mitgestalten, Vernetzen, Ko-produzieren: Das Quartier als Ort der aktiven Stadtgesellschaft

Berlin, 1. Oktober 2021. Wie lassen sich lebenswerte, vielfältige und resiliente Quartiere für alle gestalten? Diese Frage stand im Zentrum der öffentlichen Jahrestagung des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (DV) am 29. September 2021 in Berlin. Damit beging der DV auch seinen 75. Geburtstag. Obwohl das „Quartier“ mittlerweile inflationär als Begriff verwendet wird, ist es für Klimaschutz, Demografie, Integration oder Mobilität eine gute Handlungsebene. So auch für die Stärkung der durch Corona geschwächten Innenstädte: „Der Handel allein wird die City nicht mehr am Leben halten. Gerade durch die Pandemie eignen sich die Menschen den öffentlichen Raum wieder an. Der Mensch ist nicht nur ein ‚Shopper‘. Und das muss der Raum repräsentieren und ermöglichen“, sagte Staatsminister a. D. und Präsident des DV, Michael Groschek. Eine Blaupause für gelungene Viertel gibt es nicht. Notwendig ist vielmehr ein klarer konzeptioneller Rahmen, den Kommunen, Wohnungs- und Immobilienunternehmen, private Eigentümer:innen und die Bewohner:innen jeweils gemeinsam mit dem für jeden Ort passenden Schwerpunkten füllen müssen.

„Quartiere können mehr als Einzelgebäude: Wir können dort erneuerbare Energien nutzen, sie vernetzen und durch serielle Sanierung mehr erreichen“, sagte Prof. Lamia Messari-Becker von der Universität Siegen und Mitglied im Club of Rome in Hinblick auf die energetische Erneuerung. Die Bauingenieurin mahnte, dass wir in den kommenden zehn Jahren im Gebäudebereich genauso viel CO2 einsparen müssen wie zwischen 1990 und 2019: „Das Tempo ist irre schnell.“ Zudem forderte sie, dringend den Bestand mehr in den Blick zu nehmen, der für 70 bis 80 Prozent der Emissionen im Gebäudesektor verantwortlich sei. Ihre Empfehlung: „Umbaurecht statt Baurecht, mehr erneuerbare Energieversorgung statt maximaler Wärmeschutz, Sektorkopplung, Qualitätskriterien und stärkere Nutznießer-Modelle, genauso wie Beratungsstellen und Förderung.“ Denn für das Erreichen klimaneutraler Quartiere sei neben den hochkomplexen und für jedes Quartier unterschiedlichen technologischen Lösungen die soziale Komponente weit entscheidender, um alle Menschen mitzunehmen.   

So sah dies auch der Soziologe Prof. Dr. Rolf Heinze von der Ruhr Universität in Bochum. „Ein Quartier ist sozial produziert und lebensweltlich geprägt. Doch inzwischen wird es immer mehr zum schillernden Begriff banalisiert: Jeder Immobilienmakler benutzt ihn, wenn er eine Wohnung verkaufen will. Jede Ansammlung von Gebäuden ist heute ein Quartier“. Der Sozialwissenschaftler warnte zudem davor, den Blick nur auf „hippe“ Quartiere zu richten, sondern gerade schrumpfenden Vierteln oder solchen mit Menschen in prekären Lebenssituationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als größte Herausforderung benannte er den demografischen Wandel. Erfolgsfaktoren für eine positive Quartiersentwicklung seien die Identifizierung von Schlüsselfiguren sowie Mitgestaltung, intelligente Vernetzung, Modellvorhaben und Koproduktion. Denn für lebendige Quartiere sind die Kommunen auf aktive Bewohner:innen und Gebäudeeigentümer:innen angewiesen, die sich einbringen und mitgestalten.

Im Gespräch zwischen Vertreter:innen von Kreativwirtschaft, Stadtentwicklung, Kommunen, Projektentwicklung und Finanzierung wurde am Ende deutlich, dass es bei jeder Quartiersentwicklung entscheidend ist, sich von Anfang an gemeinsam an einen Tisch zu setzen, lokale Bedarfe zu analysieren und die Menschen mitzunehmen. Für Neubauquartiere sollten die verschiedenen Investierenden und Eigentümer:innen von Anfang an in einer Quartiersgesellschaft zusammengeschlossen werden, um gemeinsame infrastrukturelle und soziale Aufgaben zu übernehmen. Dies sollten Kommunen zur Bedingung für die Grundstücksvergabe machen. Zudem gelte es, die bislang noch sehr sektoral angelegte Herangehensweise in Verwaltungs- und großen Unternehmensstrukturen endlich auf eine integrierte Quartiersentwicklung auszurichten und sektorenübergreifend zu agieren. Viel zu oft noch werde in Silos und nicht miteinander verbundenen Sektoren gehandelt. Dies zeigt sich ganz besonders an einer auf einzelne Themen wie Mobilität, Energie, Digitalisierung, Städtebau oder Soziales aufgesplitterte Förderlandschaft, die für die notwendige integrierte Quartiersentwicklung von Kommunen und Stadtentwicklungsgesellschaften mühsam miteinander kombiniert werden müssen, was allzu oft nur unzureichend gelingt. Als wichtig wurden zudem „Treiber“ erachtet, die Impulse geben und Entwicklungen voranbringen – dies sollte jedoch nicht von oben geschehen, sondern in Koproduktion.

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