Die Territoriale Agenda 2030 in die Praxis bringen: Wie kann eine Pilotaktion die regionale Chancengleichheit in Europa stärken?

von Sina Redlich, BBSR, und Jonas Scholze, Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e.V.

Genau ein Jahr ist es her, dass auf dem informellen Ministertreffen für Raumordnung die Territoriale Agenda 2030 (TA2030) verabschiedet wurde. Damit verbunden war nicht nur die Einigung auf ein leitgebendes Referenzdokument zu Zielen und Prinzipien der Raumentwicklung in Europa, sondern diese sollten gleichermaßen anhand von Pilotaktionen praktisch sichtbar werden. Die TA2030 mag in ihren Aussagen oft abstrakt erscheinen, informell und daher unverbindlich. Ist sie deswegen ein schwaches Dokument? Sicherlich nicht. Denn Aufgabe der TA2030 – und analog der Neuen Leipzig-Charta für den urbanen Raum – kann es nicht sein, Instrumente und konkrete Maßnahmen der Raumordnung oder Stadtentwicklung auf europäischer Ebene zu definieren. Vielmehr obliegt es den Mitgliedstaaten, die Vereinbarung in den Kontext ihrer eigenen traditionellen Planungskulturen zu übertragen.

An diesem Punkt setzen die Pilotaktionen der TA2030 an. Ende 2020 sind bereits sechs unter der Leitung verschiedener europäischer Länder angelaufen. Weitere sind angestrebt. Ihre Aufgabe ist es, die TA2030 in die Praxis zu übersetzen und ihr ein „Gesicht“ vor Ort zu geben. Denn sicherlich wird sich dem Einzelnen die Frage stellen, wie sich „Multi-level Governance“ konkret in der administrativen Praxis umsetzen lässt oder wie die Zusammenarbeit in „polyzentrischen Netzwerken aus Städten und Regionen“ dazu beitragen kann, Entwicklungspotenziale optimal zu nutzen.  

Federführung Deutschland: Daseinsvorsorge in strukturschwachen Räumen

Insgesamt gibt es sechs Pilotaktionen, die bereits angelaufen sind (siehe Infokasten). Sie werden jeweils unter der Leitung eines Mitgliedstaates umgesetzt und greifen verschiedene Themen der TA 2030 auf. Deutschland ist an fünf Pilotaktionen beteiligt und hat in einer davon die Federführung inne, nämlich bei den „Zukunftsperspektiven für strukturschwache Regionen: Stärkung der Umsetzung von Raumentwicklungsstrategien“. Dabei geht es um zwei wichtige Fragen: Welche Wege gibt es, die Daseinsvorsorge in strukturschwachen, meist ländlichen Regionen sicherzustellen, in denen die herkömmlichen Instrumente der räumlichen Entwicklung nicht ausreichend greifen? Und wie kann dies durch Planungsstrategien unterstützt werden? Die Pilotaktion widmet sich somit einem der wesentlichen Kernanliegen des territorialen Ausgleichs: Trotz unterschiedlicher Ausgangslagen eine Chancengleichheit für die Menschen in den Regionen zu erzielen.

Leistungen der Daseinsvorsorge über Grenzen hinweg entwickeln

Am 6. Mai 2021 fand die offizielle Auftaktkonferenz der Pilotaktion unter deutscher Federführung statt. Über 300 Akteure verschiedener Governance-Ebenen wie Vertreter:innen der Pilotaktionen, Verantwortliche von der lokalen bis zur europäischen Ebene sowie Fachleute aus Wissenschaft, Verwaltung und Politik aus verschiedenen europäischen Staaten nahmen teil. Es wurde deutlich, dass viele Regionen in Europa mit vergleichbaren demografischen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen konfrontiert sind. Dr. Peter Jakubowski, Leiter der Abteilung Raum- und Stadtentwicklung im BBSR, sagte: „Viele ländliche Regionen in Europa verlieren an Bevölkerung. Die Menschen sind zudem im Schnitt älter als in städtischen Räumen. Wir müssen daran arbeiten, passfähige Leistungen der Daseinsvorsorge anzubieten und zu sichern. Die Herausforderungen sind ähnlich, da liegt es auf der Hand, Ideen gemeinsam – über Grenzen hinweg – zu entwickeln.“ Anna Geppert, Professorin am Institut für Stadt- und Regionalentwicklung der Universität Paris-Sorbonne, ging auf diese Herausforderungen ein und rief zu einer stärkeren Verankerung raumordnerischer Leitprinzipien in rahmengebenden Strategien und Dokumenten auf. Sie stellte fest, dass die wirtschaftliche Entwicklung in der Vergangenheit zu oft Vorrang vor der Raumplanung gehabt hätte und das Thema der regionalen Disparitäten mit der sektoralen Ausrichtung von Programmen und rahmengebenden Strategien verloren gegangen sei. Sie plädierte daher für die Förderung von kleinen und mittleren Städten und ländlichen Gebieten, die mit einer Stärkung der Rolle von Raumordnung und Planung einhergeht, welche sich von wirtschaftlicher Effizienzlogik entkoppelt.

Partnerschaft sensibilisiert für Herausforderungen strukturschwacher Räume

Doch wie wird sich die Pilotaktion diesem Thema nun in den kommenden zwei Jahren nähern? Dies geschieht im Rahmen einer Partnerschaft, die vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung durch ein Modellvorhaben der Raumordnung (MORO) begleitet wird. Sie setzt sich zusammen aus Akteuren auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie aus weiteren assoziierten Partnern und Multiplikatoren. Von deutscher Seite beteiligen sich die drei Modellregionen der Landkreise Görlitz und Schleswig-Flensburg sowie die Planungsregion Rostock. Hinzu kommen drei europäische Partner: die Region Alentejo in Portugal, die Region Grand Est in Frankreich und die Region Walgau in Österreich. Grundlegendes Ziel ist es, ein gemeinsames Verständnis zu schaffen, wie Aktionen auf allen räumlichen Ebenen zur Umsetzung der Ziele der TA2030 beitragen können. Daher ergibt sich aus der Beteiligung der jeweiligen nationalen und regionalen Ministerien sowie der EU-Kommission eine große Chance, den Ebenen-übergreifenden Dialog über den Zeitraum der Pilotaktion zu stärken. Ein wichtiges Ziel der Pilotaktion ist zudem die Sensibilisierung von Entscheidungstragenden für die Herausforderungen strukturschwacher Räume. Der kontinuierliche Wissens- und Erfahrungsaustausch steht im Mittelpunkt aller Aktivitäten, um Ergebnisse auf andere Regionen zu übertragen.

Ein weiteres verbindendes Element der Partnerschaft sind die gemeinsamen Handlungsfelder. Zwar haben die beteiligten Partnerregionen unterschiedliche geografische Lagen und sozioökonomische Charakteristiken, sie sind aber alle in ihrem nationalen Kontext überwiegend als „strukturschwach“ oder „lagging“ zu beschreiben. Es gibt auch im europäischen Zusammenspiel eine Reihe an verbindenden Herausforderungen: Wie können lokale Potenziale in einer kleinteiligen und gestreuten Siedlungsstruktur im ländlichen Raum genutzt und gehoben werden, insbesondere, wenn sie fernab von wirtschaftlichen Zentren und Verflechtungsräumen liegt? Welche Möglichkeiten gibt es, Effizienz und Knowhow in den Gemeinden zu bündeln und für die Menschen erreichbar zu machen?

Digitalisierung spielt wesentliche Rolle

Zudem bringen die beteiligten Partner wertvolle Erfahrungen zu informellen Planungsinstrumenten wie Beteiligungsformaten und Community Building ein. Denn– so einfach es auch klingt – Engagement und Initiativen um Maßnahmen niederschwelliger Angebote der Infrastrukturentwicklung laufen ins Leere, wenn es keine lokalen Bündelungsaktionen gibt. Einige Partner möchten dies durch die Errichtung von Anlaufstellen oder digitalen Plattformen erproben und voranbringen: In den Regionen soll beispielsweise die App "DorfNews" eingeführt werden, mit der sich Bürgerinnen und Bürger über Kommunalpolitik und Ereignisse vor Ort informieren können. Außerdem wird ein Konzept zur Sicherung und Stärkung der hausärztlichen Versorgung erarbeitet. Als Alternative zum motorisierten Individualverkehr wird die Entwicklung einer niederschwelligen Mobilitätsplattform über die Einführung der Mobilitäts-App "FahrBar" und den Aufbau eines Bürgerbusses vorangetrieben. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung. Nach bisherigen Rückmeldungen aus dem Partnerkonsortium ist eine der wichtigen Fragen, welche digitalen Instrumente sich aus dem urbanen Kontext auf den ländlichen Raum übertragen lassen. Zudem muss eruiert werden, welche Anpassungen in der Landesplanung und dem Zentrale-Orte-System notwendig sind, wenn beispielsweise im Bereich der Telemedizin plötzlich Online-Dienstleistungen in kleineren Gemeinden angeboten werden, die eigentlich nur für Mittel- oder Oberzentren vorgesehen sind. Im Rahmen einer Serie von Workshops mit bestimmten thematischen Schwerpunkten wird sich die Partnerschaft mit diesen Fragestellungen auseinandersetzen.

Zum positiven Image des ländlichen Raums beitragen

Die Pilotaktion möchte aber auch zu einem positiven Narrativ des ländlichen Raumes beitragen. Während der Podiumsdiskussion der Auftaktkonferenz hob der Görlitzer Landrat Bernd Lange den Mehrwehrt des ländlichen Raumes als Lebensraum für viele Menschen hervor. Er betonte vor allem das Ziel, die Menschen dort zu halten. „Es darf nicht nur darum gehen, Landstriche zu verwalten, sondern wir müssen den Menschen die Wahlfreiheit lassen, wo sie gern leben möchten. Sobald wesentliche Elemente wie Mobilität, Gesundheitsversorgung, Bildung und Digitalisierung wegbrechen, ist die freie Entscheidung nicht mehr gegeben und die Menschen werden immer mehr in die urbanen Zentren gedrückt.“

Die Pilotaktion ist bis Ende 2023 angesetzt. Die Zwischenstände der Tagungen und Umsetzungsmaßnahmen werden auf der Webseite des BBSR publiziert.

Weitere Pilotaktionen mit deutscher Beteiligung

  • Thema: Gemeinsame grenzübergreifende Planungsprozesse, die beispielsweise für die Energiewende oder die Umstellung nachhaltiger Verkehre für Grenzpendler von enormer Bedeutung sind
    Leitung: Luxemburg
    Deutsche Beteiligung: Ministeriums des Inneren und für Sport in Rheinland-Pfalz
  • Thema: Die Rolle von Kleinstädten und ländlichen Kommunen für die Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse / Ausbalancierte polyzentrischen Siedlungsentwicklung
    Leitung: Norwegen
    Deutsche Beteiligung: Kommune Rodewisch (Sachsen)
  • Thema: Anpassung und Resilienz urbaner Zentren im Alpenraum an die Klimaveränderungen
    Leitung: Schweiz
    Deutsche Beteiligung: Kommune Sonthofen (Bayern)
  • Thema: Stärkung der Koordination von Sektorpolitiken durch die Raumplanung und Anwendung von Instrumenten zur territorialen Folgenabschätzung
    Leitung: Polen
    Deutsche Beteiligung: Gemeinsame Landesplanung Berlin/Brandenburg
Bildnachweise von links oben nach rechts unten:
© Daniel Frank, pexels.com