Digitalisierung in Dienst gleichwertiger Lebensverhältnisse stellen

von Dr. Jürgen Heyer, Präsident des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e.V.

Städte und Gemeinden in Deutschland müssen die Digitalisierung aktiv für eine bessere Daseinsvorsorge und den regionalen Zusammenhalt nutzen. Dies war die zentrale Botschaft der Jahrestagung des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (DV) am 6. Juni 2018 in Berlin. Denn die Menschen werden nur dann langfristig in dünn besiedelten Räumen bleiben, wenn es dort schnelles Internet, attraktive Jobs, medizinische Versorgung, Verkehrs- und Bildungsangebote gibt. Gleichzeitig gilt: Wenn die Menschen den Eindruck bekommen, es kümmert sich niemand um ihre Bedürfnisse und Probleme, wenden sie sich ab oder gehen sogar auf die Straße. Klar ist aber auch: Gleichwertigkeit bedeutet nicht Gleichheit. Die Daseinsvorsorge kann und soll je nach Region durchaus unterschiedlich aussehen. Allerdings brauchen die Akteure in den Städten und Gemeinden ausreichend Unterstützung für die Gestaltung neuer, kreativer und lokal angepasster Lösungen.

Lösungen suchen statt Probleme benennen

Bei der Jahrestagung des DV diskutierten rund 180 Teilnehmer die Chancen und Herausforderungen durch die Digitalisierung. „Für gleichwertige Lebensverhältnisse haben Klein- und Mittelstädte eine Schlüsselrolle“, sagte Marco Wanderwitz, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren, für Bau und Heimat. Ende Juni 2018 wolle sein Ministerium die Heimatinitiative vorstellen. Zudem wies Wanderwitz auf die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ hin, die das Kabinett am Tag der Jahrestagung verabschiedet hatte.

Katrin Lompscher, Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen in Berlin, sagte mit Blick auf den Breitbandausbau: „Wenn man die notwendige ‚Hardware‘ nicht hat, sind die die Risiken der Digitalisierung größer als die Chancen.“ Durch die zunehmende Verflechtung zwischen Stadt und Land seien zudem leistungsfähige Verkehrsinfrastrukturen und Mobilitätsangebote notwendig. Grundlage bildeten eine gemeinsame polyzentrische Landesentwicklungsstrategie von Berlin und Brandenburg sowie funktionierende Kooperationsstrukturen – sowohl zwischen Stadt und Umland, als auch zwischen Senat und den Bezirken.

Dr. Kirsten Witte, Direktorin bei der Bertelsmann-Stiftung, forderte ein Umdenken und einen offeneren Umgang mit der Digitalisierung: Die Diskussion sei hierzulande oft angstgetrieben: Statt über machbare Lösungen zu sprechen, benenne man nur Probleme. Zudem müsse man die digitale Wende steuern, damit auch die Kommunen mit weniger guten Voraussetzungen von der Entwicklung profitieren und nicht abgehängt bleiben.

Landkreisübergreifendes Denken gefragt

Bei der Podiumsdiskussion standen die Chancen der Digitalisierung für verschiedene Aspekte der Daseinsvorsorge im Vordergrund, etwa für Bildung, Gesundheitsversorgung, Mobilität oder smarte Vernetzung und Beteiligung. Dr. Christa Standecker, Geschäftsführerin der Europäischen Metropolregion Nürnberg, stellte heraus, dass 62 Prozent der Menschen in Deutschland Pendler sind. Dementsprechend konzentriere sich die Metropolregion Nürnberg auf das, was zwischen Klein-, Mittel- und Großstädten passiert. Gerade in ländlichen Gebieten der Metropolregion gebe es viele familiengeführte Weltmarktführer und gleichzeitig einen großen Fachkräftemangel. Dem begegne man z. B. mit flächendeckenden Bildungsbüros, Überlegungen zu Pendlerbussen, in denen gearbeitet werden kann, und generell landkreisübergreifendem Denken.

Ärztemangel auf dem Land: Digitalisierung kann das Spiel wenden

Prof. Dr. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung, im IGES Institut berichtete, dass Gesundheit den Menschen heute wichtiger sei als Freiheit und Erfolg, was eine starke Verschiebung der Prioritäten zu früheren Jahren bedeute. Gerade strukturschwache, ländliche Gebiete hätten häufig aufgrund der Naturnähe ein gesundes Umfeld, litten aber gleichzeitig unter Ärztemangel. „Die Digitalisierung kann das Spiel wenden“, so Häussler. Dafür müssten aber orts- und zeitunabhängige Arztkonsultationen möglich sein, wie etwa Online-Konsultationen mit dem Arzt in der nächstgrößeren Stadt.

Menschen in dünn besiedelten Regionen halten: Strategiewechsel im öffentlichen Nahverkehr

Tobias Jensch, Leiter der Abteilung Angebotsplanung und Tarif, Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH (NASA), erklärte, wie ein Strategiewechsel im öffentlichen Nahverkehr zum Haltefaktor für dünn besiedelte Regionen werden kann. Dafür wurde etwa die Taktung eines Hauptbusses („Servicebus“) zwischen Gemeinden im Burgenlandkreis deutlich erhöht. In den angefahrenen Ortschaften passte die NASA weiterführende Verkehrsangebote wie Anruftaxis oder Bürgerbuslinien an den Fahrplan des Servicebusses an, um ein reibungsloses Umsteigen zu ermöglichen.

Digitalisierung für Beteiligung der Bürger nutzen

Christoph Meineke, Bürgermeister der Gemeinde Wennigsen südlich von Hannover, erzählte, wie smarte Vernetzung im ländlichen Raum gelingen kann. Der Einstieg ins Digitale sei mit der Teilnahme an der Initiative „Wiki loves monuments“ gekommen, bei der Wennigsen der erste kommunale Partner von Wikimedia Deutschland e.V. war. Dabei veröffentlichte die Stadtverwaltung online eine Liste mit Denkmälern aus Wennigsen. Aus den Diskussionen dazu sei zunächst eine Plattform und schließlich 2011 ein Fachausschuss für Digitales entstanden. „Kommunen sollten partizipative Möglichkeiten nutzen, um die Digitalisierung voranzubringen. Allerdings müssen sie sich vorher die Frage stellen, wo sie damit hinwollten und wie die Digitalisierung das Leben vor Ort konkret verbessern kann“, resümierte Meineke.

Kommunen müssen jetzt aktiv werden

Ausgangspunkt für die Jahrestagung waren zwei Megatrends: Die wachsenden Unterschiede zwischen den Regionen auf der einen Seite und die digitale Transformation auf der anderen. Die neuen Technologien bieten viele Chancen für periphere Räume, etwa wenn es um Homeoffice, Telemedizin, Rufbusse oder Online-Handel geht. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sich die digitale Wirtschaft künftig noch mehr auf die städtischen Metropolregionen konzentriert, wo es hochwertige Arbeitsplätze, mehr Fachkräfte, ein attraktives Kultur- und Freizeitangebot und bessere Infrastrukturen gibt. Die Teilnehmer der Jahrestagung waren sich einig, dass Kommunen und Regionen jetzt handeln müssen, damit sich die Waagschale in die gewünschte Richtung neigt: Es gilt, Kompetenzen, Strukturen und Modelle der Zusammenarbeit zu überprüfen und bei Bedarf neu auszurichten. Nur so kann die Digitalisierung in den Dienst gleichwertiger Lebensverhältnisse gestellt, können Unterschiede zwischen den Regionen verringert und der Druck auf die Wachstumsräume gestoppt werden.

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