Klimaneutralität bis 2045 nur integriert und sektorübergreifend möglich

Von Werner Spec, ehemaliger Oberbürgermeister von Ludwigsburg und Leiter der AG Energie

Es sind nur noch 22 Jahre, bis Deutschland treibhausgasneutral sein will. Für den klimaneutralen Umbau des Gebäudebestands und dessen Wärmeversorgung müssen angesichts der langen Investitionszyklen in einer enormen Geschwindigkeit tiefgreifende Modernisierungen und grundlegende Transformationen erfolgen. Erforderlich sind dazu eine gewaltige Investitionsoffensive und ein Zusammenspiel von netzgebundener und gebäudeindividueller Versorgung sowie ein lokal zielgerichteter erneuerbarer Energieträgermix. Die Bundesregierung will den dringend notwendigen verbindlichen Einstieg in die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung nun mit der auf Anfang 2024 vorgezogenen 65-Prozent-Pflicht auf den Weg bringen. In Verbindung mit der kommunalen Wärmeplanung zeigt sie als komplexes „Gesamtkunstwerk“ grundsätzlich in die richtige Richtung und zeichnet den notwendigen Weg vor. Allerdings weist sie durch ihre teils sehr ambitionierten Übergangsfristen und eine mangelnde Flankierung durch Kapazitätsausbau bei Bauhandwerk und Energieberatung an vielen Stellen Praxisferne auf und führt zu großer Verunsicherung und Überforderung, gerade bei den leistungsschwächeren Gebäudeigentümer:innen und Mieter:innen. So gibt es zwar keine explizite Technologiefixierung. Gebäudeübergreifende Lösungen, die große sozioökonomische und städtebauliche Vorteile haben können, werden aber faktisch aufgrund zu großer Komplexität und zu wenig Zeit und Planungsmöglichkeit durchaus eingeschränkt.

Referentenentwurf zum Gebäudeenergiegesetz braucht mehr Praxisnähe

Die Anfang März 2023 durchgestochene Arbeitsfassung des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) sorgte für große mediale Aufregung und eine Welle der Entrüstung. Denn damit wurde erstmals in Gesetzesform ausformuliert, was schon im Koalitionsvertrag vereinbart worden war: Gebäudeeigentümer:innen müssen beim Heizungsaustausch 65 Prozent erneuerbare Energien erreichen. Der nun zur Konsultation veröffentlichte offizielle Referentenentwurf hält daran fest – wenn auch Übergangsfristen, Härtefälle und Erfüllungsbedingungen etwas weiter gefasst wurden. Eigentümer:innen können sich an bestehende oder noch zu erweiternde Wärmenetze anschließen, die ebenfalls nach und nach klimaneutral werden sollen. Für den Fall von Heizungshavarien und für den Austausch von Gasetagenheizungen würden dann Übergangsfristen von zehn Jahren (bzw. 13 bei Gasetagenheizungen) gelten, in denen noch Gas oder Ölbrenner genutzt werden dürfen – sofern Netzbetreiber keinen schnellen Umstieg auf Wasserstoff garantieren. Für die 65-Prozent-Pflicht gelten ansonsten bei individuellen Lösungen drei Jahre Übergangsfrist. Weiterhin sind in erster Linie Wärmepumpen bzw. Hybridgeräte mit fossilen Spitzenlastkesseln, Biomasse und grüne Gase zulässig; im Bestand sind zusätzlich Stromdirektheizungen erlaubt. Es wird damit deutlich, wie radikal und mit welchen Investitionen der Ausstieg aus der fossilen Wärmeversorgung erfolgen müsste, damit der Gebäudebestand bis 2045 komplett klimaneutral wird. Gerade die verlangte Geschwindigkeit bei der Umsetzung und die Fokussierung auf die Direktnutzung von erneuerbarem Strom durch Wärmepumpen zeigen allerdings die praktischen Herausforderungen des Dokuments klar auf.

Sektorübergreifende Lösungen notwendig

Wenn der Ausstieg aus der fossilen Wärmeversorgung realitätsnah angegangen werden soll, brauchen wir dringend integrierte und sektorübergreifende Lösungen und einen flexiblen Energieträger- und Technologiemix, der alle Erneuerbaren zur Stabilisierung des Gesamtenergieversorgungssystems nutzt. Dabei müssen in Ergänzung zur Fernwärme und gebäudeindividuellen Umstellung auf grüne Wärme rasch in erheblichem Umfang gebäude-übergreifende, dezentrale Quartiersversorgungen ausgebaut werden. Denn es gibt Gebiete mit dichter Bebauungsstruktur, für die weder eine Erweiterung des Fernwärmenetzes noch gebäudeindividuelle Lösungen funktionieren. Sind diese durch heterogene Gebäude- und Eigentümerstrukturen und sehr unterschiedliche Modernisierungsstände sowie beschränkte tiefgreifende Sanierungsmöglichkeiten geprägt, bildet der Aufbau dezentraler Quartiersversorgungen die einzige Alternative. Dies ist aber sowohl technisch und vor allem organisatorisch anspruchsvoll und im Korsett der aktuellen 65-Prozent-Pflicht kaum zu leisten.

Kommunale Wärmeplanung spielt entscheidende Rolle

Eine entscheidende Rolle für eine funktionierende 65-Prozent-Pflicht spielt deshalb die kommunale Wärmeplanung mit ihrer klaren Leit- und Orientierungsfunktion. Sie muss räumlich verbindlich festlegen, in welchen Gebieten die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung über bestehende oder zu erweiternde Fernwärmenetze, über Quartiersversorgung oder über gebäudeindividuelle Lösungen erreicht werden soll. Gebäudeeigentümer:innen und weitere relevante Akteure sind frühzeitig in die Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Auch die Wärmeplanung muss allerdings integriert und sektorenübergreifend ausgerichtet sein, denn für die vermehrte Stromnutzung durch Wärmepumpen brauchen wir ertüchtigte Stromnetze. Vielfach stößt die Umstellung auf Wärmepumpen in größerem Stil in einem Quartier auf die fehlende Kapazität der Stromverteilnetze und wird von den Netzbetreibern versagt, erst recht, wenn sie mit einem gleichzeitigen Ausbau von E-Ladesäulen kombiniert wird.

Potenziale speicherbarer Energien einbringen

Manche Kommunen müssen zudem die Transformation der Gasverteilnetze zur Nutzung grüner Gase auf den Weg bringen. Denn die Dekarbonisierung kann nur gelingen, wenn Stromdirektnutzung und grüne Gase zum Einsatz kommen. Wegen der zeitlichen Volatilität von Wind- und Photovoltaik-Strom müssen die Potenziale speicherbarer Energien wie grüner Gase oder Biomasse systemstabilisierend eingebracht werden. Dies gilt insbesondere dort, wo in der kalten Jahreszeit höhere Spitzenbedarfe an Wärme zu decken sind, da ein maximaler Wärmeschutz baukulturell und bautechnisch nicht machbar ist oder ein mit zunehmenden Grenzkosten abnehmenden Grenznutzen besteht. Dort, wo aus der Industrie, der Kraft-Wärme-Kopplung,  aus Quartiers-Blockheizkraftwerken oder aus öffentlichen oder gewerblichen Gebäude größere Abnehmer mit viel Energieverbrauch wie z.B. Hallenbäder künftig mit grünem Gas versorgt werden, lassen sich grüne Gasvorranggebiete definieren. In diesen werden die Spitzenlasten an Wärme- und Strombedarf dann bei Dunkelflaute in Kombination mit Wärmepumpen für die Grundlast gedeckt. An Stellen, wo Wärmepumpen gut funktionieren oder es Wärmenetze gibt, kann das Gasverteilnetz zurückgebaut werden. Diese Planungen sind im Zusammenspiel mit einem tragfähigen und praxistauglichen Sanierungspfad – sowohl gebäudeindividuell als auch für Quartiere – zu erstellen. Dabei reicht es bei manchen Gebäuden, die sich nur mit hohem Aufwand auf Effizienzhaus-Standard 40 oder 55 sanieren ließen, so viel Wärmeschutz zu erreichen, dass Niedertemperaturfähigkeit erreicht wird und Wärmepumpen effizient laufen bzw. andere Technologien nicht unnötig wertvolle und knappe erneuerbare Energien verschwenden.

Längere Übergangsfristen notwendig

Sowohl die Wärmeplanung als auch der Umbau der Infrastrukturen lassen sich nicht rasch realisieren: Denn bislang ist der Gesetzentwurf für die kommunale Wärmeplanung des Bundes erst in der Erarbeitung und muss dann noch in die Verbändeanhörung, ins parlamentarische Verfahren und in den Bundesrat. Steht das Bundesgesetz, müssen die zwölf Bundesländer, die nicht schon wie Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit der Wärmeplanung begonnen haben, zunächst Landesgesetze erlassen. Dann erst können die zunächst avisierten größeren Kommunen ihre Wärmeplanung beginnen, für kleinere wird es noch länger dauern. Bis zur Fertigstellung der kommunalen Wärmeplanung werden dann vermutlich nochmals drei bis vier Jahre vergehen. Bis daraus verbindliche Zusagen für eventuelle Anschlüsse an erweiterte Fernwärmenetze oder neue dezentrale Nahwärmenetze gemacht werden können, braucht es nochmals einige Zeit. Soll die 65-Prozent-Pflicht umsetzbar sein, sind solche Zusagen aber eine Grundvoraussetzung, da Eigentümer:innen die Alternativen für ihren Standort kennen müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Übergangsfrist von drei Jahren verschwindend gering und auch die zehn bis 13 Jahre bei Netzlösungen können erst in Kraft treten, wenn eine verbindliche Wärmeplanung vorliegt.

Nun mag das Vorziehen der 65-Prozent-Pflicht den sinnvollen Effekt haben, dass der Transformationspfad frühzeitig klar wird und keine weiteren Lock-in-Effekte erzeugt werden. Dennoch ist Augenmaß und Praxisnähe geboten, zumal die Kapazitäten sowohl bei Wärmepumpen als auch Handwerker:innen noch nicht entsprechend ausgebaut sind. Deshalb braucht es zumindest bei den Individuallösungen längere Übergangszeiten mit Zwischenlösungen wie Leasing von Gasbrennern. Ansonsten drohen zahlreiche Härtefallregelungen und verpasste Chancen für integrierte Gesamtlösungen.

Kapazitätsausbau bei Bauhandwerk und Beratenden

Für die Wirtschaftlichkeit und damit Sozialverträglichkeit zu tätigen Investitionen sind massive Förderungen mit langfristiger Planungssicherheit unverzichtbar. Bislang reicht weder das Mittelvolumen aus, noch kann die Wirtschaftlichkeitslücke für viele Sanierungsmaßnahmen mit den geltenden Förderungen ohne deutliche Kaltmietenerhöhungen geschlossen werden. Ganz entscheidend wird es bei Einführung der 65-Prozent-Pflicht sein, dass die dann verpflichtenden Maßnahmen weiterhin gefördert werden können. Dies wird bisher durch den Grundsatz torpediert, dass was gefordert wird nicht gefördert werden kann. Darüber hinaus müssen wir dringend der aktuell wachsende Verunsicherung begegnen, vor allem bei den weniger leistungsstarken und fachlich kompetenten privaten Gebäudeeigentümer:innen. Was sind für diese perspektivisch „richtige“ und auch leistbare Investitionen, vor allem in Bezug auf Energieträger, -technologien und Kosten? Dazu muss ein massiver Ausbau einer verlässlichen, verständlichen und praktikablen Beratung und Begleitung stattfinden, mit flächendeckenden Strukturen im Netzwerk verschiedener Akteur:innen der Energieberatung und in Verknüpfung mit dem Bauhandwerk. Dies gilt es schließlich zu verbinden mit einer Qualifizierungs-, Weiterbildungs-, Kapazitätsausbau- und Effizienzoffensive in allen Bereichen des Baugewerbes und Bauhandwerks – und nicht nur in einer Wärmepumpenoffensive.

Impulse zur Dekarbonisierung der Wärmeversorgung im Bestand

Der DV hat im Rahmen der AG „Energie, Immobilien und Stadtentwicklung“ am 6. April 2023 ein Diskussionspapier mit Impulsen zur Dekarbonisierung der Wärmeversorgung im Bestand verabschiedet. Das Papier finden Sie hier.

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