Zuwanderungswelle: Stadtentwicklung muss jetzt die Weichen stellen

von Dr. Irene Wiese-von Ofen, Ehrenpräsidentin des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung

Die derzeitige Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland sorgt jeden Tag für neue Schlagzeilen. Aktuell sind es Erstaufnahme, Registrierung, Verteilung, Übergangs-Unterbringung und Versorgung, die schnell und unkonventionell gelöst werden müssen und für die im Moment alle Anstrengungen unternommen werden. Steht fest, wie viele Asylsuchende dauerhaft hierbleiben, rücken jedoch andere Fragen in den Vordergrund: Dann wird es vor allem darum gehen, die vielen Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund in die Gesellschaft zu integrieren. Dies betrifft alle ausländischen Zuwanderer, deren Zahl seit 2010 kontinuierlich zunimmt und erfordert sowohl auf Seiten der Bevölkerung wie auch der Neuankömmlinge Engagement, gegenseitige Akzeptanz und das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Wertekanon. In diesem Zusammenhang spielen auch Stadtentwicklung und angemessener Wohnraum eine entscheidende Rolle. Denn auf der Suche nach Arbeit und Familienanschluss werden die meisten Migranten vorrangig in die städtischen Wachstumsräume ziehen, wo Wohnraum bereits heute knapp und teuer ist. Was also muss den Zuwanderern angeboten, was von ihnen gefordert werden, damit Integration langfristig gelingen kann? Und in welcher Form können Wohnungsneubau und Quartiersentwicklung zu einem erfolgreichen Prozess beitragen?

Zahl der Zuwanderer seit fünf Jahren steigend

Seit gut fünf Jahren steigt die Zahl der ausländischen Zuwanderer nach Deutschland. Waren es 2010 noch 475.000 Personen, so kamen im Jahr 2014 bereits 1,15 Millionen Menschen. Mehr als die Hälfte davon waren EU-Bürger. Mit den Flüchtlingen wächst allerdings seit letztem Jahr die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten deutlich stärker an. Für 2015 erwartet das Bundesamt für Migration 800.0000 Flüchtlinge - angesichts der Entwicklungen in den letzten Wochen scheint selbst diese Zahl zu niedrig. Zum Vergleich: der bisherige Höchstwert an Asylbewerbern im Jahr 1992 lag bei 438.191 Menschen. Geht man davon aus, dass von den geschätzten 800.0000 Flüchtlingen gut 40 Prozent eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten (im 1. Halbjahr 2015 lag die so genannte Schutzquote bei 36,7 Prozent), dann würden mehr als 300.000 Personen in Deutschland bleiben.

Die weitere Entwicklung ist schwer vorherzusagen, allerdings lässt die geopolitische Lage zunächst eine anhaltend hohe Zuwanderung erwarten. Auch in der Vergangenheit gab es Hochphasen der Immigration, so etwa die „Gastarbeiter“ aus Südeuropa und der Türkei in den 1960er Jahren oder die Aussiedler und Kriegsflüchtlinge, die Anfang der 1990er Jahre aufgrund der Folgen des gefallenen Eisernen Vorhangs kamen.

Sozial-, Beschäftigungs- und Stadtentwicklungspolitik müssen Hand in Hand arbeiten

Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Neben dem Schutz der Menschrechte ist die vermehrte Immigration, durch die auch gut ausgebildete Menschen nach Deutschland kommen, insoweit positiv für den Arbeitsmarkt und damit auch für die sozialen Sicherungssysteme zu werten. Die aktuelle Zuwanderungswelle hat allerdings angesichts ihrer Stärke und der sehr unterschiedlichen Herkunftsländer, aus denen die Menschen zu uns kommen, eine neue Dimension. Damit muss sich die Gesellschaft jetzt auseinandersetzen und Differenzierungen erkennen, ohne manche Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Für eine erfolgreiche Integration müssen Sozial-, Beschäftigungs-, Bildungs- sowie Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik von Anfang an Hand in Hand arbeiten. Zunächst gilt es, Fremdheit und Ausgrenzung zu überwinden. Dafür sind Kinderbetreuung, Schulen und Jugendarbeit sowie Sprach- und Integrationskurse wichtig, wofür dringend mehr personelle und finanzielle Kapazitäten erforderlich sind. Der zweite Schlüsselfaktor ist die schnellere Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Es gilt, Abschlüsse anzuerkennen, Aus- und Weiterbildung anzubieten und Arbeitsplätze zu vermitteln. Nicht zuletzt ist es aber auch entscheidend, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, damit die Menschen ihre Privatsphäre zurückgewinnen und wirklich „ankommen“ können.

Mehr Wohnungsneubau im preisgünstigen Segment notwendig

In den städtischen Wachstums- und Zuwanderungsregionen muss deshalb noch deutlich mehr Wohnungsneubau im preisgünstigen Segment angeregt werden. Angesichts der ohnehin angespannten Wohnungsmärkte sollte sich dieser an die gesamte Bevölkerung richten und nicht speziell für Flüchtlinge gebaut werden. Darüber hinaus gilt es zu erwägen, ob besondere Wohnformen bedacht sowie neue Techniken eingesetzt und andere Organisationsformen gemeinsam entwickelt und angeboten werden können. Auch Betreuungsangebote, z. B. für traumatisierte Flüchtlinge, müssen in Erwägung gezogen werden. Wichtig ist es auch, die ohnehin begonnene Diskussion um Standards im Wohnungsbau - sine ira et studio - zu führen. Beim Neubau und der Wohnungsvermittlung stellt sich dann die Frage, welche städtebaulichen Lösungen das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen in einem Quartier am besten gewährleisten können. Inwieweit kann man die Zuwanderer in bestimmten Stadtteilen sammeln bzw. eine Konzentration zulassen? Wie viel Durchmischung ist sinnvoll und auch tatsächlich zu erreichen?

Unterstützung bei der Eingliederung im Quartier

Die Bereitstellung von Wohnraum kann jedoch nur ein Schritt sein. Damit sie sich in den Quartieren einleben können, gilt es, die Zuwanderer durch ein vernetztes Ankunfts- und Integrationsmanagement beim Ankommen und bei der Eingliederung in ihr neues Lebensumfeld zu begleiten. Sie brauchen Orientierung für Sprach- und Integrationskurse, für Kinderbetreuungs-, Schul- und Bildungsstrukturen sowie für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Dafür sollten öffentliche, private und zivilgesellschaftliche Organisationen einbezogen und Strukturen für ihr Zusammenwirken aufgebaut bzw. gestärkt werden. Auch die Träger des Integrationsmanagements benötigen dafür psychologische Betreuung und Schulung sowie Kenntnisse über die verschiedenen Zuwanderungsgruppen und deren kulturelle Hintergründe. Um eine positive Einstellung zur Integration der Neubewohner zu bewahren bzw. zu schaffen und zu verhindern, dass die Stimmung umschlägt, sollten die bereits im Quartier Lebenden in die Prozesse eingebunden werden. Vereine und Nachbarschaftsinitiativen können hier wichtige Unterstützungsfunktionen einnehmen. Dazu ist gerade das Engagement Ehrenamtlicher wichtig, das aber eine Kontinuität erreichen muss.

Anforderungen an Zuwanderer

Für eine gelingende Integration ist es allerdings ebenso wichtig, gewisse Anforderungen an die Zuwanderer selbst zu stellen. Dies betrifft die Anerkennung eines grundlegenden Regel- und Wertekanons, der in der EU, in Deutschland geteilt wird. Dazu zählen z. B. Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit, Korruptionsfreiheit, Religionsfreiheit und Toleranz gegenüber anderen Lebensformen. Zudem ist es wichtig, die zentralen, hier gültigen Gepflogenheiten und Rechtsgrundlagen zu vermitteln, nach denen das Zusammenleben im Quartier, in der unmittelbaren Nachbarschaft oder in Mehrfamilienhäusern funktioniert, so dass diese von den Zuwanderern mittelfristig anerkannt und ebenfalls gelebt werden. Dies ist an Vorbedingungen wie Kenntnisse, Verhalten und Einsicht sowie bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Hintergründe und v.a. das Rechtsverständnis in Deutschland gebunden. Je höher die sprachlichen und kulturellen Barrieren sind, desto schwieriger ist diese diffizile Vermittlungsaufgabe.

Integration ist dauerhafte Aufgabe der Stadtentwicklung

Die generelle Zielsetzung aller Aktivitäten muss es allerdings sein, die Zuwanderung - selbst unter der Last der augenblicklich großen Zahl - als eine dauerhafte Aufgabe der Stadtentwicklung anzuerkennen, die strukturiert, finanziert und - im besten Sinne in Richtung guter Routine – gelöst werden muss. Mit den sich daraus ergebenden wohnungs- und stadtentwicklungspolitischen Fragestellungen will sich der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung auch in Zukunft befassen. Bei seiner Jahrestagung Ende September wird er das Thema diskutieren und Vorschläge unterbreiten.